Quantcast
Channel: Verfassungsblog » Freiheit
Viewing all articles
Browse latest Browse all 17

Zwangsmedikation bleibt psychiatrischer Alltag

$
0
0

Update 2.12.2012: Ich habe für diesen Artikel heftige Dresche bezogen. Und, so schwer es mir fällt, muss ich zugeben: zu Recht. Das war zu schnell geschossen.

Ich habe gerade mit einem Bekannten gesprochen, der eine psychiatrische Klinik in Süddeutschland leitet. Er hat mir einfach ein paar Fälle aus der akutpsychiatrischen Praxis geschildert:

  • Eine junge Mutter, bei der nach der Geburt eine postnatale Psychose ausbricht und die sich selbst und das Baby umzubringen droht. Mit Medikation ist sie in kurzer Zeit wieder bei ihrem Mann und ihrem Kind (und im Zweifel gottfroh, dass sie das Medikament bekommen hat). Ist es im Sinne ihrer Patientenrechte richtig, sie stattdessen wochenlang in der Geschlossenen einzusperren?
  • Ein Psychosepatient fängt an zu toben. Soll man ihn, damit er sich und andere nicht verletzt, fixieren und ihn, an allen Gliedmaßen festgebunden, heulen und schreien lassen, anstatt ihm eine Spritze zu geben, die dafür sorgt, dass es ihm besser geht?
  • Eine Manikerin schreit die ganze Nacht, über Wochen. Der Frau geht es subjektiv prächtig, sie hat sich noch nie besser gefühlt. Aber müssen ihre Mitpatienten hinnehmen, dass sie Nacht für Nacht kein Auge mehr zutun?

Ich neige sonst nicht dazu, die Komplexität meiner Themen zu unterschätzen. Ich habe zwar oft mit Dingen zu tun, von denen ich nicht genug verstehe, aber sonst frage ich entweder Leute, die etwas davon verstehen, oder ich halte mich mit einem eigenen Urteil zurück. Warum mir hier die Pferde so durchgegangen sind, weiß ich auch nicht, aber dass mir das passiert ist, wird mich Demut lehren. Wer sich ärgert, ob als Betroffener oder als  Leser, den bitte ich um Verzeihung, und wer mich seinen Ärger hat wissen lassen, bei dem bedanke ich mich.

Es gibt kaum eine grässlichere Vorstellung, als gegen den eigenen Willen mit Psychopharmaka vollstopft zu werden. Das ist eine der massivsten Verletzungen der menschlichen Integrität – nicht nur wegen der Nebenwirkungen, sondern wegen der Hauptwirkung: Es geht um die Manipulation der Gefühle, der Antriebskraft, des Selbstempfindens, ganz buchstäblich um die Seele. Deshalb ist es selbstverständlich und mit dem allergrößten Nachdruck ein Gebot des Grundgesetzes, psychisch Kranken den Horror der Zwangsmedikation so weit als irgend möglich zu ersparen.

Über 60 Jahre hat die psychiatrische Realität diesem Gebot einigermaßen erfolgreich widerstanden. In den letzten Monaten ist allerdings einiges passiert: BVerfG und BGH haben große Schritte unternommen, die Selbstbestimmung psychisch Kranker besser zu schützen. Daraus will der Gesetzgeber – so zumindest die Behauptung – Konsequenzen ziehen. Heute stimmt der Bundestag in erster Lesung über eine Neuregelung des § 1906 BGB ab, die für verfassungsmäßige Zustände sorgen soll.

Ein Riesenthema, sollte man meinen. Hier geht es um Bioethik, um schwierigste Fragen der Menschenwürde, um die Ermächtigung des Staates, Menschen gegen ihren expliziten Willen vor sich selber zu schützen. Da wäre eine Primetime-Plenardebatte fällig, eine jener “Sternstunden des Parlamentarismus” mit fraktionsübergreifenden Gruppenanträgen, mit aufgehobener Fraktionsdisziplin, mit riesigen ZEIT-Interviews mit Norbert Lammert und Rita Süßmuth und allen möglichen Bischöfinnen.

Aber nichts. Die Einbringung des Gesetzentwurfs ist der letzte Punkt heute auf der Tagesordnung, am Ende eines langen Haushaltsdebattentages. Es wird ein paar Reden geben von den zuständigen Abgeordneten, aber die werden gar nicht erst gehalten (nicht, dass irgendjemand zugehört hätte), sondern zu Protokoll gegeben. Nur Oliver Tolmein regt sich auf, was die große Zahl seiner Verdienste mehrt (ohne seinen Blogpost hätte ich das gar nicht mitbekommen).

Und inhaltlich? In dem Gesetzentwurf ist viel von ultima ratio die Rede und von Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit und so weiter.

Aber eins steht nicht drin: Dass die Angst des Patienten erst mal ernst genommen werden muss von den Medizinern. Dass man sich die Mühe machen muss, sie ihm soweit irgend möglich zu nehmen. Schon damit er nicht anfängt, in seiner Panik laut zu werden, aggressiv womöglich, zu randalieren und sich mit Händen und Füßen gegen die Medikation zu wehren zu seinem eigenen Schaden, weshalb man leider, Gott sei’s geklagt, nach strengster Verhältnismäßigkeitsprüfung zur absoluten ultima ratio greifen muss, und die heißt: Fünf Mann drauf auf ihn, festschnallen und rein mit der Sedierspritze.

Die Einwillligung des Patienten in den Eingriff in seine körperliche Integrität ist juristisch nicht nötig, sie wird durch die des Betreuers ersetzt – dazu ist dieser ja da. Ist es vorstellbar, dass irgendein Betreuer gegen ärztlichen Rat die Einwilligung verweigert, nur weil der Patient so unvernünftig ist, davor Angst zu haben?

Der Gesetzgeber, da scheint mir Oliver Tomein Recht zu haben, ist von dem Willen beseelt, nach den Interventionen aus Karlsruhe den Status Quo soweit wie möglich abzusichern. Das ist nicht, was das Grundgesetz ihm zu tun gebietet. Im Gegenteil.

The post Zwangsmedikation bleibt psychiatrischer Alltag appeared first on Verfassungsblog.


Viewing all articles
Browse latest Browse all 17

Latest Images





Latest Images